Geschichtliches zum Siedlerwesen

Siedler und Eigenheimer zwischen Stadtplanung und Raumordnung

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Quellen:
Sprechen wir als organisierte Siedler und Eigenheimer über unsere Vereinsgeschichte, richten wir uns in der Regel nach Erlebniszeit und Erlebnisraum. In einer Chronik beschreiben wir die Anfänge mit Gründung und Aufbau der Siedlung und des Wirkens seiner Mitglieder bis zum heutigen Tag. Natürlich hat jeder Siedlerverein seine eigene Entwicklung durchgemacht, im Zusammenhang historisch relevanter Maßstäbe jedoch ist das Siedlungswesen in seinem jeweiligen gesellschaftspolitischen Kontext zu sehen. Aus Sicht der historischen Stadtentwicklung bzw. der sich über die Jahrhunderte entwickelnden Stadtplanung und Raumordnung, insbesondere während der letzten 200 Jahre, spielen neben gesellschaftlicher auch wirtschafts- , sozial- u. gesundheitspolitische Hintergründe wichtige Rollen. Die Grundlage zur Durchführung von Siedlungsmaßnahme im genannten Zeitraum ergibt sich meist durch eine mangelnde Versorgungslage größerer Bevölkerungsteile bezüglich einer adäquaten Wohn- und Lebenssituation. Die Fördermaßnahmen zielen auf eine unterstützende Hilfe zur aktiven Selbsthilfe.
 
Vor der Industrialisierung war Deutschland durch eine flächengebundene Agrarproduktion geprägt. Das Städtewachstum war relativ gemäßigt. Mit Beginn der industriellen Produktionsweise in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Standortkonzentrationen in Städten und Revieren erfolgten erste, meist planlose Erweiterungen vor den oft noch durch Mauer und Tore abgegrenzten Altstädten. Fabrikationsanlagen wurden geradezu „vor den Toren der Altstadt“ nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten (Standortnähe z.B. Kohle, Arbeitskräfte, Handels- und Transportwege) erstellt. Ein allmählich ansteigender Zuzug der Landbevölkerung auf der Suche nach Arbeit und Auskommen kompensierte den steigenden Bedarf an Arbeitskräften. Der Ausbau der Industrie setzte sich wie auch der städtische Bevölkerungszuwachs rapide fort, die Versorgungslage der arbeitenden Bevölkerung wurde immer schwieriger (mit allen negativen Auswüchsen).
 
Mit der 2. Hälfte des 19. Jh. beschleunigte sich das Städtewachstum im besonderen Maße. Durch Investitionen, insbesondere Großindustrieller, entstanden Arbeitersiedlungen, Wohnkolonien, Mietskasernen. Bei firmeneigenen Wohnanlagen wurden zur besseren Eigenversorgung vielerorts zusätzlich auch Familiengärten für Betriebsangehörige, sog. Fabrikgärten erstellt. – Aus Sicht der Stadtentwicklung erfolgte eine Erweiterung und Umgestaltung der Stadtregion.  Städte und/oder staatliche Regierungen entwerfen für die neuen Fabriken- und Arbeiterwohnviertel "Bebauungs-" oder "Fluchtlinienpläne", die jedoch staatlich (z.B. vom preußischen Innenministerium) polizeilich genehmigt werden müssen. Rechtsgrundlage ist das Allg. Preuß. Landrecht. Demnach kann der Grundeigentümer im Prinzip sein Grundstück bebauen wie er will. Als Auflagen sind lediglich Fluchtlinien vorgegeben bzw. feuerpolizeiliche Anforderungen. Die Folge sind negative Auswirkungen auf die weitere Bebauung (Straßengrundrisse waren meist regelhaft, rechteckig, Förderung der Überbauung, Hinterhöfe/Innenhöfe werden immer kleiner).
 
1875 wird mit dem Preußischen „Fluchtliniengesetz“ erstmalig ein Stadtplanungsgesetz verabschiedet. Die Aufstellung von Bebauungsplänen wird kommunale Angelegenheit und damit vereinfacht. Eine neue Entschädigungsregel tritt in Kraft: Anlieger können zum Straßen- und Kanalbau herangezogen werden (finanziell). In den Großstädten wie Berlin, Wien, Leipzig entstehen gründerzeitliche oder wilhelminische Wohngürtel. Diese erfahren schließlich ab ca. 1900 eine Gegenbewegung. 1896 erschien in Leipzig das Buch von Theodor Fritsch „Die Stadt der Zukunft“. Der Schöpfer der „Gartenstadt“-Idee formuliert gleich auf den ersten Seiten unmissverständlich: „Städte, und vor allem Großstädte, gelten als ungesunde Auswüchse der Zivilisation, …“. Diese Sicht, die er mit einer Vielzahl von Intellektuellen teilte, führte zu Überlegungen, durch die Einbeziehung von Gärten in die Stadtplanung eben jenen Auswüchsen zu begegnen. Er entwickelte den Plan einer ringförmig angelegten Großstadt in deren äußerem Ring sogar Kleingärten ihren Platz bekamen. Seine Idee von der Gartenstadt erlangte weitere Unterstützung durch das Erscheinen des Buches „Gartenstätte von morgen“ (1898, Titel dt. Übersetzung ) von Ebenezer Howard ( einem Engländer). Die Kernthesen stellten eine Verbindung der positiven Seiten urbanen und ländlichen Lebens; d.h. gesunde Auflockerung der städtischen Steinwüsten, räumliche Nähe von Wohn- und Arbeitsstätten, genossenschaftliches Eigentum. - Entstanden in England Reformsiedlungen (Bournville bei Birmingham; Port Sunlight bei Liverpool) und erste Gartenstädte (Letchworth, Welvyn Garden City), so gründete eine romantisch-sozialreformerische Dichterkommune 1902 in Berlin die „Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft“. In Deutschland entstanden allerdings keine selbständige Gartenstädte, sondern nur von der Gartenstadt-Idee mehr oder weniger stark beeinflusste Siedlungen am Rande bestehender größerer Städte; als genossenschaftliche Siedlungen könnten am ehesten noch Dresden-Hellerau und Karlsruhe Rüppur bezeichnet werden. Jedoch erfolgte indirekt ein starker Einfluss auf den Städtebau insbesondere auf Werkssiedlungen von Krupp (Essen-Margarethenhöhe, Duisburg-Margarethenhof, Bochum-Dahlhauser Heide, Datteln-Beisenkamp). Schließlich wurden fast alle Wohnsiedlungen mit offener, durchgrünter Bauweise „Gartenstadt“ genannt.
 
Nach dem 1. Weltkrieg kam es 1918 zur erneuten Aufnahme der Reformideen in der Stadtplanung. Der Wohnungsmangel der schnell wachsenden gründerzeitlichen Städte konnte durch den freien Markt und private Investoren nicht gedeckt werden. Viele berufsständische und kommunale Wohnungsgenossenschaften wurden nun verstärkt von den Kommunen unterstützt und zu Instrumenten ihrer Wohnungspolitik (Planung von Siedlungen, Vorfinanzierung durch Betriebe). Unter anderem war Zielsetzung Gliederung und Auflockerung durch Licht, Luft und Grün; Begrenzung der Wohndichte; „Nachbarschaftseinheiten“ gegen Großstädtische Anonymität, Forderung nach Bodenreform aus kollektivem Interesse; ….
 - Im besonderen Maße schuf der Staat kurz nach dem ersten Weltkrieg mit der Verabschiedung verschiedener Gesetze in den Jahren 1918 bis 1920 die Grundlagen zur Schaffung von Kleinsiedlungen. Damit wollte der Staat für die Kriegsteilnehmer und Kriegerwitwen, den von den Kriegsfolgen am stärksten Betroffenen, durch die Schaffung von bodenverbundenem Eigentum, einer Heimstätte, die Kriegsfolgen mildern. Weiteren Schub bekamen die “vorstädtischen Kleinsiedlungen” durch die gesetzlichen Grundlagen im vierten Teil der dritten Notverordnung 1931.
 
Mit der Regierungsübernahme der Nationalsozialisten 1933 fasste mehr und mehr die Ideologie gegen eine „großstädtische Entartung“ Fuß. Sie trat für die Förderung der bodenverbundenen Kleinsiedlung (im Heimatstil) ein und damit verbunden den weitreichenden Plänen zu einer Re-Agrarisierung der Bevölkerung. Diese Pläne wurden jedoch nie ernsthaft realisiert, zumal bald die Kriegswirtschaft absolute Priorität genoss. Als Kerninteresse verblieb jedoch eine mehr als nur Selbstversorgung im Siedler- und Kleingartenwesen, um eine umfassende Quelle zur Versorgung weiter Bevölkerungsteile mit Lebensmittel zu erschliessen und auszubauen.
 
Nach dem 2. Weltkrieg standen zunächst der Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte und die Schaffung von viel billigem Wohnraum zur Unterbringung der Bevölkerung im Vordergrund. In der BRD war in den Großstädten rund die Hälfte, in Mittelstädten rund ein Drittel und in Kleinstädten rund ein Viertel des Wohnungsbestandes zerstört. Ein Großteil der Stadtbevölkerung, die sog. „Evakuierte“, war auf dem Lande untergebracht. Die Wohnungsnot wurde dramatisch durch den Zustrom von rund 10 Mio. z.B. aus der DDR und Vertriebene aus den ehemaligen dt. Ostgebieten. 1950 fanden sich mit dem Wohnungsbaugesetz verschiedene Schwerpunkte besonderer Förderung: Der Bau von Sozialwohnungen erfolgte insbesondere in Städten mit 3 bis 4 geschossigen Mietshäusern und in ländlichen Räumen meist als 1-Familienhäuser, den sog. „Kleinsiedlern“ mit großen Nutzgärten zur Selbstversorgung. Diese wurden oft dort gebaut, wo zusammenhängende Flächen verfügbar waren, d.h. am Stadtrand, in offener Zeilenbauweise und großzügiger Durchgrünung. So entstanden Satelliten- und Trabantenstädte nach dem Modell der Gartenstädte.
 
Weitere Gesetze wurden in den 60er Jahren formuliert, nämlich das Bundesbaugesetz 1960 sowie 1965 das Raumordnungsgesetz und ferner das Landesplanungsgesetz. Es war die Zeit hochfliegender Stadtentwicklungs- und Stadterweiterungsprojekte während einer Zeit scheinbar grenzenlosen Wachstums der Wirtschaft und Steuereinnahmen sowie der Ansprüche an Wohnungsgröße, Wohnungsqualität und Infrastrukturleistungen. Zugleich war es aber auch die Hochzeit der wissenschaftlichen Stadtplanung mit der Vorstellung man könne mit wissenschaftlichen Methoden die Lebensbedürfnisse der Menschen optimal erfüllen. Als Leitbilder standen „Intensives und vielgestaltiges Leben“ (Trennung von Arbeiten und Wohnen / Wohnen als intimer Rückzugsraum / Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie in eigener abgeschlossener Wohnung mit selbstbestimmter Freizeitgestaltung) und verkehrsgerechte Stadt“ bzw. „Urbanität durch Verdichtung“. Wichtiger Faktor war die Steigerung der Privatmotorisierung. Die Innenstädte verlieren langsam an Wohnstatus, der sich immer stärker an die Peripherie verlagert. Die Mobilität wird durch den Bau von Schnellstraßen bis in die Innenstädte gewährleistet. Umgesetzt wurden u. a. der Bau von Großwohnsiedlungen (Trabantensiedlungen) und Satellitenstädten als Gegenpole zur teilweise abgewerteten Stadt. Es herrschte der große Boom des Einfamilienhausbaus.
- Die parallelle Entwicklung in dieser Zeit von vielgeschossiger, dichter Bebauung im Wohnungsbau und hoher Fremdkapitalfinanzierung führten jedoch teilweise auch zu geringer Attraktivität und deshalb später teilweise auch zu hohen Leerständen, hoher Fluktuation und sozialer Desintegration.
 
Ab ca. 1975 veränderten sich die Rahmenbedingungen. Es setzten Bevölkerungsstagnation und  Bevölkerungsrückgang, Abschwächung des Wirtschaftswachstums, Stagnation der privaten Einkommen, Wertewandel (u.a. Umweltsensibilisierung) und eine Ausdifferenzierung der Lebensstile ein. Es kam zur Umorientierung der Stadtplanung. Ziele beinhalteten eine erhaltende, sanfte Modernisierung mit Wohnumfeldverbesserung gerade in den Innenstädten. Angesetzt wurde u.a. an der Stadterneuerung und Denkmalpflege, der Stadt als Bühne, Stadtkultur und Stadt-Marketing und der ökologischen Stadtentwicklung. Aber auch die Suburbanisierung (Wohngürtel um Innenstädte/Großstädte) nun getragen durch den privaten Eigenheimbau wurde weiter verfolgt und gefördert, d.h. kleinteiliges Wachstum im Umland der Städte an Stelle von Großwohnsiedlungen.
 
In diesem Zusammenhang wird klar, dass aus heutiger Sicht an eine spontane Verwirklichung einer typischen Neusiedlung im alten Stil mit gemeinschaftlicher Nachbarschaftshilfe im organisierten Vereinsrahmen kaum mehr zu glauben ist. Wir sprechen zwar heute, wenn irgendwo ein Neubaugebiet erschlossen wird noch immer von einer Neubausiedlung, doch ist der Trend zur Individualisierung der einzelnen Eigenheimbesitzer derart groß, dass die Bereitschaft sich mit anderen zu organisieren als sehr gering einzuschätzen ist. Um dieser bereits weit fortentwickelten Tendenz entgegenzuwirken, ist für eine Vereinsbildung bzw. das Anwerben potentieller (Neu-)Mitglieder entweder, so scheint es, ein akuter Notstand erforderlich, der die Anwohner schließlich zur Gemeinschaftlichkeit führt oder eine außerordentlich gute Öffentlichkeitsarbeit von ortsansässigen, vielfältig und professionell agierenden Vereinen ausschlaggebend. Der Normalbürger macht sich die Bindung an einen Verein nicht mehr so einfach und die Konkurrenz ist groß.